Perspektivy St. Petersburg

Heute bin ich immer noch dabei, Mails der letzten Wochen zu lesen. Dabei hat mich der Weihnachtsbrief von Thomas Seifert, dem Geschäftsführer von Perspektiven e.V. beschäftigt. Dieser deutsche Verein kümmert sich mit seinem russischen Partnerverein Perspektivy um Menschen mit Behinderungen in und um St. Petersburg. In unserem Programm „Freiwillige Dienste im Ausland – FDA“ des Bistums Osnabrück haben wir in den letzten Jahren Freiwillige in den Einsatzstellen von Perspektivy in St. Petersburg und Pawlowsk begleitet. Thomas Seifert schreibt nun: „Liebe Freundinnen und Freunde von Perspektiven! Dieses Jahr hat sicher jedem von uns einiges abgerungen und vieles verändert. Bei Perspektiven sind mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie Dinge passiert, von denen wir vorher nie geglaubt hätten, dass sie möglich sind – im positiven, wie im negativen Sinne. So konnten zum ersten Mal seit 25 Jahren keine deutschen Freiwilligen nach Sankt Petersburg ausreisen. Denn die Grenzen nach Russland sind geschlossen. Vor allem in den staatlichen Heimen, wo viel zu wenig Personal vorhanden ist, werden die Freiwilligen extrem vermisst. Katja Tarantschenko, die Geschäftsführerin von Perspektivy, erzählte mir über Skype, dass einige Bewohnerinnen im Erwachseneninternat in Peterhof seit einem Jahr nicht mehr draußen an der frischen Luft waren! Keiner ist da, der mit ihnen spazieren geht. Aber die Mitarbeiterinnen und russischen Freiwilligen von Perspektivy haben Unglaubliches geleistet. Um die Schwächsten vor dem Virus zu schützen, holte Perspektivy im April 26 Kinder und Jugendliche aus den Heimen. Dort waren sie mit ihrem oft schwachen Immunsystem besonders gefährdet. Sie kamen in Privatwohnungen und den Tageszentren unter, die wegen der Pandemie schließen mussten. Die Kinder entwickelten sich prächtig. Slavik hat ein neues Lieblingsgericht: Blyny (Pfannkuchen)! Seine Betreuerin Daria erzählt: „Slavik nimmt den Pfannkuchen selbst in die Hand, beißt ab und kaut ihn. Das ist eine neue Fähigkeit, denn im Heim bekommen die Kinder meist nur püriertes Essen. Als wir die Spielplätze in der Umgebung besuchten, stellte sich heraus, dass Slavik sehr an seinen Altersgenossen interessiert ist. Einmal gelang es ihm, sich mit einem Jungen anzufreunden. Das mit anzusehen, war eine große Freude!“ Ende des Sommers konnten die Tageszentren dann wieder öffnen. Die Frage war nun: Wohin mit den aus den Heimen geholten Kindern und Jugendlichen? Einige wollten auf keinen Fall wieder zurück. Perspektivy startete daraufhin die Kampagne „Дом навсегда – Ein Haus für immer“, mit der Wohnplätze außerhalb des Heimes verwirklicht werden sollten…
Die russischen Medien berichteten, einige Prominente unterstützten den Spendenaufruf. Im Oktober wurde der Traum war: Perspektivy kaufte zwei Wohnungen in Sankt Petersburg! Sechs Jugendliche mit schweren Behinderungen, die zuvor im Erwachsenenheim in Peterhof wohnten, zogen ein. Perspektivy-Mitarbeiterinnen und Freiwillige betreuen jetzt Wladimir, Polja, Akschin, Pascha, Katja und Sonja rund um die Uhr in ihrem neuen Zuhause. Als ich vor 20 Jahren meinen Freiwilligendienst im Kinderheim in Pawlowsk absolvierte, lernte ich Sonja kennen. Das kleine, zarte Mädchen lebte in der Gruppe im Nachbarzimmer und lächelte immer gern zurück, wenn ich an ihrem Bett vorbeiging. Ihr Bett war ihre ganze Welt, bis auf die Momente, in denen sie von anderen Freiwilligen mit ins Spielzimmer genommen wurde oder sie mit ihr spazieren gingen. Sonja lebte bis zu ihrem 18. Lebensjahr im Kinderheim, zuvor vermutlich in einem Säuglingsheim. Danach wurde sie in das Erwachseneninternat nach Peterhof verlegt. Nun wohnt sie in unserer neuen kleinen Einrichtung für betreutes Wohnen. Ich denke, dass dies für Sonja nicht einfach nur eine weiterer neuer Ort ist, nach ihrem bisherigen Leben in den staatlichen Institutionen. Was sie denkt und fühlt, was sie braucht und sich wünscht, das zählt jetzt in ihrer neuen Umgebung. Mit anderen Worten: Selbstbestimmung und Teilhabe statt Fremdbestimmung und Ausschluss stehen im Mittelpunkt. Vielleicht zum ersten Mal ein wirkliches Zuhause für Sonja? Wir von Perspektiven in Deutschland unterstützen den Kauf und die behindertengerechte Ausstattung der Wohnungen mit 50.000 Euro, die anlässlich der Beisetzung unserer Vereinsgründerin Margarete von der Borch im letzten Jahr gespendet wurden. Wir glauben, dass das ganz in Margaretes Sinn ist. Diese Entwicklung hätte sie sehr gefreut. So viel Glück wie die neuen WG-Bewohnerinnen hatten nicht alle. Einige Kinder mussten wir wieder ins Heim zurückbringen. Eine von denen, die diese schwere Aufgabe übernahmen, war die Perspektivy-Mitarbeiterin Tatjana Grebentschuk: „Angekommen an der Heimtür, veränderten sich die Kinder sofort. Das waren nicht mehr die lebhaften Gesichter der letzten Monate. Ihre Stimme, ihr Gang änderte sich und in ihren Augen stand die Frage: Warum?“ Darum möchte Perspektivy noch mehr Möglichkeiten zum betreuten Wohnen schaffen. Jeder Mensch mit Behinderungen in Russland sollte die Wahl haben, ob er in einer Wohnung oder im Heim lebt. Perspektivy versucht derzeit, die Behörden zu überzeugen, dafür Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Sollte dies gelingen, sind wir auf Mittel angewiesen, um eine gute Betreuung zu gewährleisten…“