Ein Leben unter einem Stern

Zum Tod von Doris Epple am 31. August 2020 von Christop Stadler / Südkurier (aufgezeichnet anhand von Gesprächen mit ihr und ihrem Ehemann Bruno in den letzten Woche).

Wenige Tage vor ihrem Tod konnte Doris Epple noch vollenden, was ihr viel bedeutete. Die Herausgabe ihres Buches „Sterne in der Bibel“, in dem sie alle biblischen Texte, in denen Sterne vorkommen – beginnend mit der Genesis und endend mit der Geheimen Offenbarung -, mit ihrer wunderschönen Handschrift abschrieb und zum Teil kommentierte. So schrieb sie zum ersten Korintherbrief: „Schau doch nach dem Glanz in den Augensternen der Menschen und entdecke ihr Eigentliches, vielleicht Verborgenes, ihr Leuchtendes, ihr Gutes! Dann strahlen auch deine eigenen Augen heller ob deiner Zuneigung.“ Dies war vielleicht ihr Lebensmotiv, die Augensterne der Menschen mit ihrer zupackenden Art zu entdecken.

Am 4. Mai 1931 wurde sie als einziges Kind von Mathilde und Kurt Scholz in Karlsruhe geboren. Der Vater war Uhrmacher- und Optikermeister. Statt Musikunterricht wünschte sie sich Zeichen- und Grafikunterricht. Ihre erste Lehrerin war die Tochter des Malers Moritz von Schwind. Die gestochene Handschrift blieb ihr Markenzeichen bis zum Schluss, sei es in den persönlichen Dankbriefen, auf den bemalten kunstvollen Ostereiern und in Büchern.

Im Krieg wurde das Elternhaus zerstört und mit drei Fahrrädern fand die Familie an Ostern 1944 Zuflucht in Tuttlingen. In der Nachkriegsphase war an ein Kunststudium nicht zu denken und so absolvierte sie die Lehre und Ausbildung zur Optikermeisterin. Sie verliebte sich in den Radolfzeller Optiker Siegfried Graf und heiratete ihn. Zwei Jahre später starb dieser überraschend. Jahre später lernte sie den jungen Radolfzeller Studienreferendar Bruno Epple kennen. Er schätzte ihre Lebenserfahrung und präzise Art und notierte in einem Notizbuch das Ringen um ihre Zuneigung: „Sie hatte etwas zu sagen! Ihre Worte hatten Bedeutung!“ Am 28. Oktober 1960 kam das „Ja-Wort“, sie heirateten in Goldbach.

Als eine der ersten Frauen in der Erzdiözese Freiburg belegte sie theologische Kurse an der Universität in Wien und erreichte mit Bestnoten die Missio canonica, die kirchliche Lehrbefugnis.

Bei einem Familienausflug nach Sankt Gallen entdeckte man am Straßenrand die bemalten Eier einer Bäuerin. Die Mutter wollte sie kaufen, aber Doris und Bruno Epple waren sie nicht schön genug und fortan befiel sie das „Malfieber“. Mit Plakatfarben, Wachsbatik und der wunderbaren Handschrift entstanden wahre Kunstwerke voller Hingabe. Anlehnend an östliche Traditionen, überwiegend in kräftigem Rot, Schwarz und Weiß, vereinzelt auch mit Gelb. Ein bewundernswertes Werk ist das 1985 entstandene Palmkreuz. Auf sorgsam ausgeblasenen größeren Gänseeiern entstand eine Abfolge von verschiedenen Kreuzformen, gepaart mit Kreuz-Zitaten aus der Passions- und Osterliturgie in schwarzer Antiquaschrift. Die Farben haben in der östlichen Tradition ihre Bedeutung: Rot für Ostern und schwarz für das Kreuz, die Passion. Ihre Sorgfalt und ihr Kunstsinn bewog den Christophorus-Verlag, sie um die Herausgabe von insgesamt sechs Bastelheften zu bitten.

Das 1961 in Wangen errichtete eigene Haus war lange ein Refugium für Tiere. Zwei Schafe namens „Alpha und Beta“, Truthühner und anderes Federvieh fanden sich im Garten, zeitweise sogar ein durch einen Mähdrescher verletztes Reh mit drei Beinen.

Die Kunst wurde zum Auslöser für ihr caritatives Engagement. Sie folgte einem langjährigen Wunsch in einem Katastrophengebiet zu helfen und reiste mit einer Touristengruppe nach St. Petersburg. Sie hatte zuvor ihre Bilder des Malers Rudolf Rybiczka (1911-1998) verkauft, um mit dem Erlös Gutes zu bewirken. Mit Hilfe eines Dolmetschers suchte sie vor allem die Obdachlosen. Sie nähte in ihre Bluse Geldtaschen ein und half den Ärmsten direkt. Eine Suppenküche in einem Keller am angesehenen Newski-Prospekt hatte es ihr besonders angetan. In zwei Einmachkesseln gab es Tee mit Zucker und eine magere Brühe. Sie unterstützte fortan die Suppenküche. In den über 25 Jahren ihrer Russlandhilfe wurde sie nicht einmal von den Mitarbeitenden enttäuscht, denn sie hatte immer die Begegnung mit den Menschen gesucht. Neben der Suppenküche „Tatiana“ hatten es ihr die Kindertagesstätte in der Stadt Luga, ein Projekt für behinderte Kinder in Pskow und eine Behinderten-Pflegewohnung angetan. Ihre Hilfe mündete in eine eigene Stiftung, die jetzt vom Caritas-Verband in Osnabrück mit der Zusage übernommen wurde, dass alle Spenden für dieses Lebenswerk eingesetzt werden (vergl. den Artikel von Uli Fricker, SÜDKURIER 10.8.2020). In Corona-Zeiten kommt diese Hilfe, trotz teilweiser Schließung der Suppenküchen an, denn die Mitarbeitenden suchen die Hilfsbedürftigen direkt auf, damit sie nicht verhungern. Ihre treuste Mitarbeiterin ist dabei Irina Tymkova, die vor Ort die Hilfe koordiniert. Besonders gefragt sind Medikamente und Pflegehilfsmittel, die auf dem Markt unbezahlbar für die Angehörigen von Behinderten und alten Menschen sind.  Insgesamt sind es über 22 Projekte, von Petersburg bis ins ferne Sibirien. Als äußeres Zeichen der Wertschätzung erhielt Doris Epple unter anderem das Bundesverdienstkreuz, den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg, den St. Petersburger Orden für Barmherzigkeit – diese nahm sie nur an, damit ihre Projekt die öffentlichen Unterstützung erhielten.

Ihre Lebenserfahrungen hat Doris Epple in Tagebüchern festgehalten. Sieben Bände, alle sorgfältig mit Hand geschrieben, ohne Zeilenmarkierung, ohne Streichungen oder Radierungen. Nachdenklich und ausgewogen blieb sie bis zum wohlvorbereiteten Schluss ihres Lebens am vergangenen Montagfrüh. Eine innere Beziehung hatte sie von jeher zum jüdischen Glauben und so stand seit 30 Jahren, gewissermaßen als Memento mori, eine „Kischte“ in ihrem Keller. Ein Sarg, in jüdischer Tradition, schlicht aus rohem Holz gezimmert und von einem Engelberger Mönch mit Farben bemalt, ohne Motiv. Und an ihrem Grab wünschte sie sich einen Trommler. Eine ungewöhnliche Frau mit Tatkraft und Herzensgüte.

Zu einem Zitat aus dem Buch Daniel notierte sie in ihrem Buch: „Wer ein „leuchtendes Beispiel“ ist, gleicht einem Stern. Er wird nicht zur Eigenherrlichkeit funkeln, sondern sein Licht verausgaben. Ein strahlender Mensch wird viele andere erhellen. Leuchtkraft hat Ewigkeitscharakter.“ Doris Epple hat mit ihrem Wirken ihr Licht verausgabt, sie ist für andere zum Stern geworden: für ihren Mann, die Menschen in unserer Region und in Russland. Dieser Stern leuchtet zusammen mit anderen weiter, besitzt wirklich so etwas wie „Ewigkeitscharakter“.                                                    CS